Zwischen den beiden Choreografien dieses Abends gibt es auf den ersten Blick einige Ähnlichkeiten. Beide sind gewissermaßen abstrakt, ein reduzierter Raum, der Tanz steht im Zentrum. In beiden sind alle beteiligten Tänzer*innen durchgehend auf der Bühne.
Vor diesen Ähnlichkeiten treten die Unterschiede besonders hervor. In „Playing with Sergei, Martha and the Others“ ist die Musik, wie der Titel bereits andeutet, das zentrale Material, mit dem das Ensemble spielt. In „Undertainment“ gibt es keine Musik. Oder doch? Das Ensemble begleitet sich selbst mit einer Komposition aus Geräuschen und Lauten, die den Bewegungen und Formationen einen durchaus musikalischen Rahmen geben.
UNDERTAINMENT
CREDITS
CHOREOGRAFIE William Forsythe
TANZ Tänzer*innen der Dresden Frankfurt Dance Company
CHOREOGRAFISCHE ASSISTENZ Cyril Baldy
PROBENLEITUNG Pauline Huguet
LICHT Tanja Rühl
KOSTÜME Dorothee Merg

UNDERTAINMENT
Erläuterungen von William Forsythe
„Undertainment“ ist als musikalisches Ereignis konzipiert, vergleichbar mit einem Kammermusikwerk für ein kleines Orchester. Die Tänzer*innen agieren flexibel sowohl als Solist*innen als auch in der Gruppe als auch als Dirigent*innen – alle mit eigenen Führungsaufgaben und spezifischer Expertise.

Die primäre Modalität des Stücks ist der Kontrapunkt, basierend auf abstrahierten Grundfiguren des Balletts. Es ist, als wäre das mathematische Modell des Balletts des 18. Jahrhunderts von Descartes ausschließlich für die königlichen Mathematiker entwickelt worden – und nicht in die blumigeren sozialen Sphären des Hofes Ludwigs XIV. integriert worden.

Diese spezifische Abstraktion der vertrauten Ballettfiguren reduziert sie auf einige grundlegende Zustände: Nähe, Ausdehnung und Rotation. In Kombination mit den für das Ballett charakteristischen verdrehten und gefalteten Koordinationen entsteht daraus ein deutlich erkennbares „Verwandtschaftsgefüge“, das sichtbare Rekombinationen durchläuft.

Die Tonalität von „Undertainment“ lässt sich als eine akutes Einlassen auf die jeweilige kontrapunktische Konstellation charakterisieren – mit der stets präsenten Frage: „Wer reagiert auf wen?“

WILLIAM FORSYTHE
William Forsythe ist seit über 50 Jahren als Choreograf tätig. Seine Werke sind dafür bekannt, dass sie die Praxis des Balletts aus der Identifikation mit dem klassischen Repertoire gelöst und zu einer dynamischen Kunstform des 21. Jahrhunderts transformiert haben. Er tanzte mit dem Joffrey Ballet und später mit dem Stuttgarter Ballett, dessen Hauschoreograf er 1976 wurde. 1984 begann seine 20-jährige Tätigkeit als Direktor des Ballett Frankfurt. Im Anschluss formierte Forsythe ein neues Ensemble, The Forsythe Company, das er von 2005 bis 2015 leitete. Forsythes tiefgreifendes Interesse an organisatorischen Grundprinzipien der Choreografie hat ihn dazu geführt, ein breites Spektrum von Projekten in den Bereichen Installation, Film und webbasierter Wissensentwicklung zu realisieren.
Während seine Bühnenarbeiten einen zentralen Platz im Repertoire der Ballettensembles weltweit einnehmen, sind seine Installationen international sowohl in Museen als auch in Sammlungen vertreten. Forsythe erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig, den Theaterpreis DER FAUST und den Kyoto-Preis, alle drei für sein Lebenswerk.
PLAYING WITH SERGEI, MARTHA AND THE OTHERS
CREDITS
CHOREOGRAFIE Thomas Hauert
TANZ Tänzer*innen der Dresden Frankfurt Dance Company
CHOREORAFISCHE ASSISTENZ Pauline Huguet
DRAMATURGIE Philipp Scholtysik
KOSTÜME Dorothee Merg, Thomas Hauert
MUSIK
Klavierkonzert Nr.3 d-moll op.30 von Sergei Rachmaninoff
Solistin: Martha Argerich
Dirigent: Riccardo Chailly
Radio-Symphonie-Orchester Berlin
Konzertaufnahme von 1982
DANK
Herzlichen Dank an alle Mitarbeiter*innen der Kompanie ZOO für ihre langjärige Bewegungsexperimentierfreude und besonderen Dank an Liz Kinoshita und Mat Voorter für den geborgten Schluss aus "Rhapsody on a Theme of Accords". Außerdem ein besonderer Dank an die Tänzer*innen der DFDC für ihre kreative Mitarbeit!
Das dritte Klavierkonzert von Sergei Rachmaninoff gilt als besondere Herausforderung für Pianist*innen. Jenseits der technischen Virtuosität, die gewiss auch einen Anteil an seinem Reiz ausmacht, ist die Musik geprägt von einer außerordentlichen emotionalen Komplexität. Thomas Hauert bringt in seiner Arbeit für die DFDC das Konzert in der Aufnahme mit Martha Argerich von 1982 auf die Bühne. Das Ensemble taucht in die Musik ein und tritt mit ihr in einen spielerischen Dialog. Die Tänzer*innen interpretieren die Musik aus ihrer subjektiven Wahrnehmung heraus mit ihren Körpern und interagieren mit dem Rhythmus, der Dynamik und den emotionalen Kontrasten. Zugleich reagieren sie in einem komplexen Geflecht aufeinander.
Aus der Arbeit mit seiner eigenen Company ZOO bringt Hauert in über 25 Jahren entwickelte Prinzipien und Spielregeln für Improvisation mit, die weniger auf Kontrolle als auf die kollektive Intelligenz aller zusammen setzen.
Diese Arbeitsweise steht in einem interessanten Spannungsverhältnis zu Rachmaninoff. Während dieser als beispielhafte Schöpferfigur, die gewissermaßen über den Dingen schwebt, den Musiker*innen inkl. der Solistin auf autoritäre Weise enge Vorschriften macht, grenzt sich Hauerts Praxis von einem so überhöhten Geniebegriff zugunsten eines radikal kollaborativen Schöpfungsprozesses ab. Der Tanz begreift die Musik nicht als Kommando, sondern nutzt sie als Anregung, als Spielplatz, ja als Gegenüber eines immer wieder neuen, überraschenden Dialogs.

ALLES WAS PASSIERT, HAT MIT ETWAS ANDEREM ZU TUN, DAS AUCH GERADE PASSIERT. UND ALLES WAS PASSIERT, PASSIERT, WEIL ES MIT ETWAS ANDEREM ZU TUN HAT.
Kommentar von Philipp Scholtysik
Man kann sich eine Welt vorstellen, in der es keine Ballett-Aufführungen mehr gibt. Aber eine Person, die das Ballett geliebt hat, erinnert sich noch und kann davon erzählen. Was würde sie sagen, um Menschen, die es nie gesehen haben, zu erklären, was sie am Ballett fasziniert hat? Ich stelle mir vor, dass diese Person von der Beziehung zwischen Musik und Bewegung sprechen würde. Vielleicht würde sie von dem Genuss sprechen, abstrakte Muster in der Bewegung zu erkennen, ohne sie unbedingt verstehen zu müssen. Vermutlich würde sie von Virtuosität sprechen, von dem Stauen darüber, wozu menschliche Körper fähig sind, und darüber, wozu eine Gruppe von Menschen in der Koordination fähig ist. Vermutlich würde sie über Unisono sprechen, über die Schönheit, wenn sich Körper synchron bewegen, vermutlich würde sie auch über Kontraste sprechen, darüber wie einzelne Körper einer Gruppe gegenüberstehen, und wie sich gegensätzliche Bewegungsqualitäten ergänzen.
Wenn man sich nun vorstellt, dass jemand mit zeitgenössischen Mitteln ein ähnliches Erlebnis anstrebt, also nicht archäologisch rekonstruierend die verschwundene Form Ballett rekonstruiert, sondern neu etwas schafft, dass in der Betrachtung einen ähnlichen Genuss ermöglicht, dann würde vielleicht etwas entstehen, dass der Arbeit von Thomas Hauert ähnlich ist. Quasi Ballett in einem Paralleluniversum, in dem es egalitärer zugeht und künstlerische Schöpfungen weniger von einem Genie im Zentrum ausgehen, als von der Kollaboration vieler mündiger Künstler*innen.

Nun ist das lediglich eine Analogie, die ich hier konstruiere, tatsächlich ist seine Arbeitsweise ein andere, die sich nicht in direkter Auseinandersetzung mit dem Ballett entwickelt hat. Und man muss natürlich einiges außeracht lassen, um der Analogie zu folgen, so ist das klassische Ballettrepertoire ja durchaus im engeren Sinn narrativ. Mit seiner Company ZOO hat Hauert in über 25 Jahren Prinzipien und Spielregeln für Improvisation entwickelt, die darauf setzen, dass die intuitiven Entscheidungen einer Gruppe im Live-Moment auf der Bühne, komplexeren Tanz ermöglicht, als es eine analytisch geschriebene Choreografie würde. Das ist ein kollaborativer Prozess, der den Tänzer*innen nicht nur in der Entwicklung den Proben, sondern auch in der Aufführung viele kreative Aspekte der Choreografie anvertraut. Man kann eine solchen Ansatz als radikalen Gegenentwurf zum Ballett verstehen. Gerade deshalb erscheint mir die Eingangs entworfene Analogie interessant. Die enge Beziehung von Musik und Bewegung, die Freude an der Komplexität der Beziehungen zwischen den verschiedenen Körpern, das Wechselspiel aus Synchronität und Kontrapunkt, erinnern an Ballett. Aber das Menschenbild ist ein fundamental anderes. Und natürlich ist Ballett weder die einzige, noch die erste Weise, in enger Verbindung mit Musik zu tanzen.

Wie funktioniert das? Ein Prinzip das durchgängig eine große Rolle spielt heißt „Complementary“. Zwei Tänzer*innen beobachten sich gegenseitig und nehmen voneinander Impulse auf, indem sie zu jeder Bewegung des Gegenübers, eine komplementäre Bewegung machen. Hierbei gibt es allerdings weitreichende Freiheitsgrade. Man sucht zwar nach Entsprechungen, aber nach komplementären, nicht unbedingt danach, die Bewegung des Gegenübers zu spiegeln. Oft entstehen so Körperhaltungen, die sich eher wie Puzzleteile entsprechen, die zusammenpassen, gerade weil sie nicht gleich sind. Eine Bewegung wird zu einer anderen Bewegung in Beziehung gesetzt. Das gleichzeitige Agieren (anstatt eines Zug-um-Zug-Prinzips) führt dazu, dass oft gar nicht erkennbar ist, wer führt und wer folgt, bzw. dass diese Funktionen enorm schnell hin und her wechseln.

Ähnlich funktioniert die Interaktion mit der Musik. In gewisser Weise tanzen die Tänzer*innen nicht zur Musik, sondern mit ihr, man könnte sogar sagen: sie tanzen die Musik. Manchmal scheinen so ganz enge Verbindungen zwischen einem Ton und einer Bewegung auf, oft ist es freier, immer ist es ein Spiel. Insgesamt entsteht so ein Geflecht, in dem ein Element fast immer mit einem anderen zu tun hat. Und dieses Zu-tun-haben ist aber keine Angelegenheit von Bedeutung. Die Bewegungen übersetzen nicht die Musik in ein anderes Medium, sondern sie interagieren mit ihr. Was dabei entsteht ist nicht dafür da, verstanden zu werden, sondern, erkannt und erlebt zu werden. Miteinander-zu-tun-haben (formaler würde man von Isomorphie sprechen) ist das Gegenteil von Beliebigkeit. Obwohl die Choreografie extrem weitreichend auf Improvisation setzt und den Tänzer*innen sehr viel Kontrolle und damit auch Verantwortung überlässt, erzeugen die Spielregeln ein Geflecht, das sich nicht beliebig anfühlt, sondern in dem alles seinen Platz hat, weil es in einem Verhältnis zu etwas anderem steht. Oft passiert so viel so schnell gleichzeitig, dass es unmöglich ist, alle Verbindungen zu sehen, aber dass man es mit einem organischen Ganzen zu tun hat, bleibt immer bestehen.

Wenn das Ballett eine Vision des Menschen vorschlägt, in der der Mensch über sich selbst hinauswachsen kann, hin zu einem Ideal, das vielleicht ein soldatisches ist, jedenfalls eines von Disziplin, dann steht dem heute eine andere Virtuosität entgegen, die den Menschen als Wesen von Beziehungen sieht, in denen offen bleiben kann, ob alle gleich oder alle verschieden sind. Ich stelle mir vor, dass auch die ballettbegeisterte Person die ich eingangs erfunden habe, beglückt aus „Playing with…“ herauskommen würde.

THOMAS HAUERT
Thomas Hauert gründete 1998 seine Compagnie ZOO in Brüssel. „Cows in Space“ war sein erstes Stück, das gleich bei den Rencontres de Seine-Saint-Denis/Bagnolet ausgezeichnet wurde. Seither entwickelte die Compagnie mehr als 21 Stücke. Neben seiner Arbeit für ZOO war Hauert Gastchoreograf u.a. für das Zürich Ballett, Toronto Dance Theatre, Candoco Dance Company, Ballet Junior de Genève und das Ballet de Lorraine.
Angelehnt an seine choreografische Arbeit entwickelte Hauert eine international anerkannte Unterrichtsmethode, die auf seinen Bewegungsrecherchen mit ZOO basiert. Seit 2013 ist er der Künstlerische Leiter des Bachelorprogramms für Zeitgenössischen Tanz bei La Manufacture, der Hochschule für darstellende Kunst in Lausanne.
Begleitprogramm
Premierenparty
23.05.2025
Im Anschluss an die Vorstellung laden wir herzlich zur Premierenparty ein.
Nachgespräch
24.05.2025
Erfahren Sie mehr über die Hintergründe der Produktion und die beteiligten Künstler*innen.

Dresden Frankfurt Dance Company
Wir sind ein zeitgenössisches Tanzensemble unter der künstlerischen Leitung von Ioannis Mandafounis. Wir entwickeln, präsentieren und vermitteln Tanz mit dem Wunsch, Menschen zusammenzubringen, zu inspirieren und für Tanz zu begeistern. Ob durch energiegeladene, inspirierende Aufführungen oder intime, ruhige Momente – Tanz hat die Kraft, die unterschiedlichsten Menschen zu verbinden.
Wir vereinen zeitgenössisches Denken und Tanztradition, indem wir experimentieren und traditionelle Vorstellungen von Choreografie überdenken und weiterentwickeln. Eine zentrale Grundlage der Arbeit des Ensembles ist die von Ioannis Mandafounis entwickelte Methodik. Diese ermöglicht es den Tänzer*innen, aus ihren Körpern, Bewegungen und Aktionen in jeder Aufführung und jedem Moment neu live auf der Bühne eine Choreografie zu kreieren.
Tänzer*innen der DFDC
Todd Baker
Thomas Bradley
Emanuele Co’
Audrey Dionis
Louella May Hogan
Nastia Ivanova
Marina Kladi
Noémie Larcheveque
Ugnė Irena Laurinavičiūtė
Yan Leiva
Daniel Myers
Emanuele Piras
Solène Schnüringer
Ichiro Sugae
Ido Toledano
Samuel Young-Wright
Team DFDC
Martina Becker
ASSISTENTIN DER KAUFMÄNNISCHEN DIREKTORIN
Carolin Beyer
FREIWILLIGES SOZIALES JAHR (FSJ)
Lilli Christoph-Homberg
LEITUNG KOMMUNIKATION
Manuel Gaubatz
EDUCATION
Annika Glose
KAUFMÄNNISCHE DIREKTORIN
Jochen Göpfert
LICHT
Pauline Huguet
PROBENLEITUNG
Ronja Koch
MARKETING & ONLINEKOMMUNIKATION
Dietrich Krüger
TECHNISCHER DIREKTOR
Ioannis Mandafounis
KÜNSTLERISCHER DIREKTOR / CHOREOGRAF
Dorothee Merg
KOSTÜM
Rike Meyer
AUSZUBILDENDE MARKETINGKOMMUNIKATION
Julian Mommert
GASTSPIELE & KOPRODUKTIONEN
Victoria Patronas
WERKSTUDENTIN
Johanna Roggan
KOOPERATIONEN & NETZWERK
Edgar Röthig
TON
Philipp Scholtysik
DRAMATURGIE
Martin Weinheimer
BÜHNE
Mette Windberg Baarup
KÜNSTLERISCHES BETRIEBSBÜRO
Impressum
Fotos
Kampagnenbilder: Sitara Thalia Ambrosio
Produktionsfotos: Stephan Floss
Probenfotos: Dominik Mentzos
Texte
William Forsythe, Philipp Scholtysik
Redaktion
Lilli Christoph-Homberg, Carolin Beyer